Dienstag, 17. März 2015

Bullenalarm - mehr oder weniger


Ich gehe nie den selben Weg zum Bahnhof. Irgendwo mache ich einen Schlenker, Straßen um das zu tun gibt es genug. Das kommt daher, dass ich keine Gewohnheiten, Zeremonien oder Rituale mag. Es ist Zeitverschwendung etwas zu wiederholen. Die Wiederholung reizt weder die Fantasie, noch verlängert sie das Leben. Ganz im Gegenteil: In der Zukunft liegt am Horizont nicht der Hintergrund. Aber genug Einleitung.
Auf meinen verschiedenen Wegen in die und durch die Stuttgarter Innenstadt, ist mir aufgefallen, wie viele Geschäfte schließen. Kleine, zum Beispiel ein Tabakladen, der auch alten Whiskey verkaufte; Mittelständische, deren Angebot nicht mehr gefragt ist; oder auch größere Modehäuser, die jetzt nicht mehr "modern" sind. Es heißt, sie würden vom Internet aus dem Markt gedrängt und wer den Absprung nicht geschafft habe, hätte jetzt das Nachsehen. Selber Schuld, sagt man. Ich habe noch nie etwas im Internet gekauft, das ich "draußen" bekommen konnte, aber ich war auch noch nie zu faul, um danach zu suchen! Aber wer es sich schon mit seinen Argumenten so leicht macht, dem kann man lange Wege nicht zumuten. Tante Emma Laden? Was ist das denn? Um die Ecke einkaufen! Alder, Du läufst nicht ...
Apropos laufen, ich gehe also immer zu Fuß zum Hbf. Heute habe ich dieses Bild geknipst, nur zur Illustration des vorher gesagten.





























Ich will nicht behaupten, dass ich dort oft und bewusst eingekauft habe, also mir sagend: "Du gehst jetzt ins Karstadt", so wie ich mir sage: "Du gehst jetzt zu Peek&Cloppenburg, weil Du dort eine Kundenkarte hast ..." Ich schweife ab.
Endlich lag mein Ziel vor mir. Meine Gralsburg, mein Montsalvat, genannt:





























Man darf das jetzt nicht zu wörtlich nehmen, manche Leute haben überhaupt keinen Humor, aber ich war am Opernhaus der Staatstheater vorbei gegangen und dabei schoss mir wohl Lohengrin durch den Kopf ... obwohl, das hätte doch der Tell sein müssen? ... Wie dem auch sei: ich war da.
Und drinnen war niemand außer meine Lieblingsthekenfrau. Nicht einmal der Schatzisager und niemand an den Spielautomaten.





























Man kennt solche Szenen aus Horrorfilmen. Da ist nix los, außer unheimlicher Musik. Aber nicht einmal die gab es hier. Frau ***** ( der Name ist dem Autor bekannt) hatte das Miniradio auf Minilautstärke gedrosselt.
"Nix los heute." eröffnete ich die Konversation, nach der üblichen Begrüßung.
"Gottseidank!" sagte sie, und das Ausrufezeichen ist berechtigt.
"Wie geht es Ihnen denn heute?" Also das ist eine Frage, die man eigentlich nie jemand stellen sollte, außer man ist Arzt und an der Antwort beruflich ernsthaft interessiert. Entweder man bekommt ein belangloses: "Danke, ganz gut." zur Antwort, oder eine Krankengeschichte, mit der wirklich nur Ärzte etwas anfangen können. Ich bekam die Krankengeschichte.
Als wir an dem Punkt angekommen waren, an dem sie die Schuhe auszog, um mir die deformierten Zehen zu zeigen, die "wahrscheinlich" für ihr Rückenproblem verantwortlich sind, ging die Tür auf und dahinter stolperte ein Mann in den Raum.
"Rufet nicht die Bullen." lallte er.
Frau ***** zog ihren Schuh an und fragte: "Warum sollte ich die Bullen anrufen?"
Ich war auf die Antwort gespannt. Aber es kam keine. Der neue Gast hatte sich am Tresen quasi stabilisiert und starrte glasigen Auges in das was er wohl die Runde hielt, aber einfach vor sich hin war.
"Warum rufen Sie die Bullen?" fragte er und es lag etwas aufmüpfiges in seiner Stimme.
"Ich rufe niemand." sagte Frau *****
Das musste der Gast erst einmal verdauen. Dabei sah er aus, als würde er das Verdaute auch gleich von sich geben. Er begnügte sich aber damit, leicht vor und zurück zu schwanken und mehrmals zu rülpsen.
"Ich hab seit drei Tagen nicht geschlafen und muss etwas essen. Geben Sie mir ihr Tagesmenü." Das liest sich hier so leicht und locker, kam aber eher wie ein Buchstabenbrei aus seinem Mund. Den Inhalt habe ich mir zusammengereimt.
Frau ***** war da schon geschulter im Interpretieren. Sie sagte: "Wir haben kein Tagesessen."
Das traf ihn hart. "Dann rufen Sie doch die Bullen!" schrie er.
Ich wich zurück.
"Warum soll ich die Bullen rufen?" fragte Frau *****.
"Ihr ruft doch immer die Bullen." meinte er.
"Also was wollen Sie?" Jetzt wurde sie geschäftlich. "Wir haben Fleischkäse, Kassler und Bratwürste. Und ich denke mal, dass Sie nichts mehr zu trinken brauchen."
Mit der Vielfalt des Angebots und dem Sinn des letzten Teils ihrer Äußerung war er sichtlich überfordert. Er richtete sein Augenmerk auf mich.
"Ich schieße nicht auf Menschen." sagte er.
Ich überflog seine Kleidung, konnte aber keine Beulen darin entdecken, die eine Schusswaffe sein können hätten.
"Ich habe Flugzeuge bewacht als Soldat ... was haben Sie gemacht?" Er musterte mich zum ersten Mal mit Vorsatz und registrierte wohl mein offensichtliches Alter.
"Ich war vor Stalingrad." log ich.
"Man sieht's." meinte er.
Ich hätte ja empört sein dürfen, war es aber nicht. Läuft doch ganz gut dachte ich. Sein Interesse an mir war erschöpft.
"Ruft ihr jetzt die Bullen!" schrie er.
"Ich kann die Bullen gar nicht rufen." sagte Frau ***** und fügte, eigentlich nur für mich, hinzu: "Das Telefon ist kaput."
`Na prima.´ dachte ich.
"Wollen Sie jetzt etwas essen, oder wollen Sie gehen?" fragte Frau ... na ja, ihr wisst schon wer.
Die Verhandlungen über das was er konsumieren wollte zogen sich hin, aber schließlich zog er sich mit einem Leberkäsweckle und einem Hefeweizen an die andere Theke zurück.
"Der Leberkäs ischt jo kalt!" meldete er sich sofort wieder.
Dann wurde es wirklich grotesk. Er fing an zu weinen, aber nur kurz, wie wenn ein Martinshorn nur einmal aufjault.
"Wann ruft ihr denn die Bullen!" wollte er wissen und schlug mit geballten Fäusten wirklich gewalttätig auf sich selber ein.
`Da bekommt er sicher blaue Flecken´, dachte ich.
Frau ***** sah mich an, ich sah sie an und wir zuckten synchron die Schultern.
Was soll man da machen? Das Telefon funktioniert nicht, niemand besitzt ein Handy.
In die Halle rennen und: "Hilfe! Hilfe! Polizei!" schreien? Da kann man ja eine Panik auslösen, bei der es eventuell hunderte Tote gibt!
... Na ja, die Bahnhofshalle war fast leer ...
Und der Mann biss in sein kaltes Leberkäsweckle und suckelte an seinem Bier, das sicher schon warm war.



Immer wenn man bei Horror-Filmen denkt: `So, das war's.´ reckt plötzlich das Obermonster sein scheußliches Haupt und speit Tod und Verderben über die bis dahin Überlebenden. (Es überleben meistens nur zwei, ein Mann und eine Frau ...)
"Ich schieße nicht auf Menschen!" schrie der Mann, er war bedrohlich auf mich zugewankt, und zermalmtes Leberkäsweckle spritzte von seinen Lippen. "Was muss ich zahlen?" fragte er in ganz normalem Tonfall.
"Ist alles bezahlt." sagte Frau *****, was der Wahrheit entsprach.
"Warum ruft ihr dann die Bullen?!" schrie er.
Das hier habe ich wirklich erlebt, nur extremer als ich es wiedergeben kann! Es war schlimmer als Kafka!
Im Nachhinein denke ich, dass er in Haft genommen werden wollte.
Wohin er den wolle, habe ich ihn gefragt.
"Nach Karlsruhe." war die Antwort.
`Wer will schon nach Karlsruhe?´ dachte ich.
Es dauerte noch eine Weile, bis ich ihn davon überzeugen konnte, dass er es im Warteraum nebenan bequemer haben würde und ihn unaufdringlich dorthin bugsierte. Er blieb eine Weile sitzen und tigerte dann noch endlos draußen durch mein Gesichtsfeld, aber in den "Schlemmer" kam er nicht mehr.
Frau ***** bedankte sich für meine Unterstützung in der Krise und freute sich auf ihre bevorstehenden drei freie Tage.
Ich fuhr mit der U-Bahn nach hause.
Vor mir gingen zwei rauchende junge Männer. Sie unterhielten sich über eine Frau. Schließlich blieben sie ratlos stehen, sahen sich um und einer sagte, der Kleinere: "Wowowowohnt sie denn?"
Sie wird schon wissen, warum ihr das nicht wisst, dachte ich. Danach war ich bald zuhause.









Keine Kommentare: