Noch neun Tage, dann fliege ich. Bin ich bereit? Ehrlich gesagt: Jein. Aber das betrifft nicht nur die vor mir liegende Reise, mit all ihren Unwägbarkeiten, sondern an meiner ganzen Sicht auf die Zukunft, nah oder fern. Ich habe das Gefühl, dass ich darauf zu gehe wie auf eine Nebelwand. Aber dieses Gefühl ist nicht neu, es begleitet mich jetzt seit ein paar Jahren schon, als wäre irgendwann schlagartig das Ziel aus meinem Blickfeld gerückt worden, auf das ich bis dahin zugegangen bin. Was fehlt ist die Neuorientierung, die Sichtbarkeit einer Sicherheit, die die Gewissheit des Todes mildert. So alt bin ich geworden. Jetzt stehe ich mit meinem unentschlossenen, wackeligen rechten Bein, das geradezu symbolisch geworden ist für "das Leben", in der Freude und dem sicheren, meinem Körper harmonisch angepassten linken Bein im Zweifel. Also: Schritt für Schritt wohin?
Kieser Training habe ich aufgegeben. Es hat meinen Tremor nicht zu mildern vermocht, was ja mein Ziel und meine Hoffnung war. Die Anstrengung während des Trainings steigerte das Zittern so sehr, dass ich manche Übungen nur schwer oder gar nicht beenden konnte. Zum Schluss musste ich alle Gewichte reduzieren, um überhaupt das Gefühl zu haben, dass ich etwas Sinnvolles mache. Eigentlich tut es mir ja Leid darum, die Stunde im Studio war nicht langweilig und die Übungen für die Beine, zumindest die die Anpassung der Kraft des rechten an das linke, scheinen Fortschritte gemacht zu haben. Zumindest habe ich jetzt Schmerzen im rechten Fuß, die ich vorher nicht hatte. Ich muss also etwas finden, ein Training das ich ohne Gerät machen kann, das meine Standfestigkeit und die Balance fördert und auf Dauer behält. Ich bin sicher, dass es so ein Training gibt, aber habe ich meine Bequemlichkeit so fest im Griff, dass ich das ohne "Zwang" auch mache? Mein linkes Bein sagt: vielleicht.
Die schlagartige Blindheit des rechten Auges war meinem Optimismus natürlich auch nicht gerade förderlich und die Diagnose "Grüner Star" lässt jeden zittern, zumindest seelisch. Blindheit zu simulieren, indem man die Augen schließt, ist eine Sache, sich damit auseinandersetzen als, wenn auch nur eventuelle, Realität eine andere. Vorläufig bin ich ja "stabilisiert", aber die Notwendigkeit einer Operation in der Zukunft, nah oder fern, wurde von ärztlicher Seite schon angemahnt. Also stehen meine Augen jetzt, sozusagen, auch auf wackeligen Beinen. Bei längeren Spaziergängen lässt die Wahrnehmung der Ferne mehr und mehr nach und ich habe das Gefühl, dass entweder ich taumle oder die Umwelt schwankt. Das verunsichert und ermüdet. Wie wird das in Istanbul sein? Ich hatte/habe vor dort viel zu Fuß zu erkunden. Das Mögliche wird sich finden, denke ich.
Dann steht da noch ein Wort im Raum, das sich selbst isoliert:
Inkontinenz.
Wer redet schon überhaupt darüber, von gern ganz zu schweigen? Man könnte meinen, es wäre eine Geschlechtskrankheit oder ein Verbrechen. Aber wie sollte es auch anders sein, wo doch selbst die Betroffenen alles tun, um das Thema nicht anzusprechen. Nur beim Urologen findet man das offene Ohr, das man wie in einem Beichtstuhl nutzt. Aber das Problem bleibt was es ist: "Das Problem". Da hilft auch witzige Werbung im Fernsehen nicht, wo der Harndrang jungen, blonden Frauen auf der Schulter sitzt und ihnen ins Ohr schreit: "Schnell! Finde die nächste Toilette!". Da haben wir schon das nächste Problem: öffentliche Toiletten werden immer seltener und die Bedürfnisautomaten in Form von Litfasssäulen, von Bänken gesäumt auf denen Einkaufsmüde sitzen, sind meistens "Außer Betrieb". Harndrang ist eine Frage der Körperbeherrschung. Na ja. Es gibt viele blöde Sprüche, die man sich nicht zu merken braucht. Zum Beispiel den von Goethe: "Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen." Nur was man zu Fuß rechtzeitig erreichen kann nützt! Ich nehme jetzt seit drei Wochen die vom Arzt verschriebenen Kapseln mit wenig Nebenwirkungen. Wirkung? Mal sehen. Vielleicht nach weiteren drei Wochen?
Dann bin ich schon beinahe wieder aus Istanbul zurück ...
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