Freitag, 28. April 2017

Wie funktioniert Erinnerung?

























Gestern ging ich zufällig in der Schlossstraße an einem kleinen Lebensmittelladen vorbei und sah, mehr oder weniger aus den Augenwinkeln, in einem Kistchen Früchte liegen, die ich kannte. Irgendwie forderten sie mich zum Innehalten auf. Mein Unterbewusstes rief: "Halt!" Ich ging trotzdem weiter. Aber nur wenige Schritte, dann kehrte ich um. Eigentlich erwartete ich ein italienisches Geschäft, denn diese Früchte sind in meiner Erinnerung unverrückbar mit Italien verbunden. Besser gesagt mit Sizilien! Aber zu meiner Überraschung stand über dem Laden `Souk arabica´, arabischer Markt.
Der Besitzer sah dann aber typisch arabisch aus. Ein Charakterkopf wie aus Disney's `Aladin´, inklusive Hakennase. Ich nannte ihm meinen Wunsch, er gab mir eine kleine Plastiktüte und  sagte: "Nehmen Sie was sich möchten."
Auf dem Schildchen an der Kiste stand `Nispoli´. Ich hatte sie als `Nespole´ kennengelernt ... damals ... vor wievielen Jahren? 40? 45? ... Dann spulte die Erinnerung ihren Film ab.
Sizilien. Der Bahnhof Giardini Taormina, unten am Meer, die Stadt hoch oben auf den Felsen. Ein kleines Bahnhöfchen, nur ein Haltepunkt. Walter und ich waren, auf meinen Vorschlag hin, mit der Bahn auf Italienreise. Vier Wochen lang! Nach einer Erholungspause von 8 Tagen auf Ischia, mit Neapelbesuch, hatten wir Taormina erreicht. Allerdings stellten wir beim Übersetzen vom Festland zur Insel Sizilien fest, dass der Bahnverkehr auch von den Meeresverhältnissen abhängig war. Die Straße von Messina kann ganz schön holprig sein und dann haben die Züge Verspätung! Allerdings hatten wir Glück und erreichten Taormina beinahe Fahrplanmäßig. Eine Woche wollten wir hier sein, mit Ätnabesuch, selbstverständlich.
An diesem Tag aber hatte ich einen Ausflug nach Siracusa eingeplant, ca. 120km entlang der Küste. Wir hatten `Europa-Tickets´, konnten also fahren wohin wir wollten ohne zusätzliche Fahrkosten. Syrakus interessierte mich, nachdem ich den Roman `The Mask Of Apollo´ von Mary Renault gelesen hatte. Sie beschreibt das antike Syrakus, in dem Dionysius II herrschte, der Tyrann zu dem Schiller's Damon `den Dolch im Gewande´ schlich, so lebensnah, dass ich beim Lesen quasi körperlich vor Ort war! (Das inspirierte mich zu dem Unterfangen selbst einen Roman zu verfassen, in dem Syrakus und Taormina Schauplätze sind. Allerdings spielt mein Roman `Caesar's Asche´ wesentlich später als zu Dionysius' Lebzeiten.) In Renault's Roman ist ein Steinbruch einer der Schauplätze in Syrakus. Er heißt heute noch, und er existiert auch weiterhin, `Das Ohr des Dionysius´. In diesem Steinbruch, einer riesigen Höhle, gibt es eine Stelle an der man selbst geflüsterte Worte, die weit entfernt gesprochen werden, deutlich verstehen kann. Der Tyrann mchte sich dieses Phänomen, das nur wenige kannten, Zunutzen um seine Feinde, die die Höhle als verschwiegenen Versammlungsort betrachteten, zu belauschen und danach ihre Pläne zu durchkreuzen. Diese Höhle wollte ich unbedingt `erleben´.
Es war ungefähr 11 Uhr vormittags. Herrliches Wetter! Ein idealer Reisetag. Der Zug vom Festland, andere Verbindungen nach Süden bestanden nicht, sollte um 11:15 abfahren. Es wurde 11:30, es wurde 12:00 Uhr. Kein Zug. Auf einem Nebengleis, das von der Küste weg zur Inselmitte wies, stand ein Regionalzug bereit, nur zwei Waggons. Nachdem wir lange Zeit die einzigen Reisenden waren die auf Transport warteten, kamen nun zwei junge Burschen, ca. 14-16 Jahre alt, dazu. An der Bahnstrecke standen Bäume auf denen orange-gelbe Früchte gereift waren. Die zwei, es waren Schüler wie wir erfahren konnten, die in Taormina zur Schule gingen und nun mit dem Regionalzug nach Hause fahren wollten, kletterten auf einen der Bäume und füllten ihre Hosentaschen mit den Früchten. Sie bemerkten dass wir sie interessiert beobachteten, als sie anfingen das Obst zu essen und kamen herüber zu uns um uns davon anzubieten. "Nespole." sagten sie und nickten auffordernd. "Il nome Nespole?" fragte ich in meinem mehr als dürftigen Italienisch. Sie nickten eifrig und zeigten uns dann wie man die Frucht zum Verzehr von der Haut befreit. Der Geschmack war sehr überraschenend, ungewohnt, leicht herb und adstringierend, die Konsistenz des Fruchtfleisches so zwischen Apfel und Pfirsich. Sehr erfrischend an diesem inzwischen heißen Tag.
Wohin wir wollten, fragten sie. "Siracusa." antwortete ich. Sie verdrehten dramatisch die Augen. "Treno non arrivo." Sie passten ihre Sprache meinen mangelhaften Kenntnissen an. "Molto tarde! Due, tre, quattro ore possibile." Der Zug würde sehr viel Verspätung haben bis zu vier Stunden wären möglich. Und dann machten sie uns klar, indem sie die Schultern anhoben und die Handflächen nach oben und außen wendeten. "Oggi?", dass er heute vielleicht gar nicht mehr käme. Na prima. Was jetzt. Der Lokomotivführer des Lokalzügles ließ die Dampfpfeife ertönen. Zeit für die Abfahrt. Wohin dieser Zug fahre, fragte ich die Schüler. "Randazzo." war die Antwort. Walter und ich sahen uns an. Nie gehört. Sie machten schlängelnde Bewegungen mit den Händen: "Alcantara. Molto bello!" Sie küssten ihre Fingerspitzen und schüttelten sie als wären sie sehr heiß. Deutlicher lässt sich Begeisterung auf zeichensprachlich Italienisch kaum ausdrücken. Der Lokomotivführer wurde ungeduldig und pfiff und läutete. Er wusste dass die Burschen mitfahren mussten. Also stiegen wir auch ein. Es gab noch mehr Nespole. An der nächsten Haltestelle waren sie zuhause. Sie winkten und wir hatten das Gefühl auf Sizilien `angekommen´ zu sein! Die Fahrt durch die Alcantara Schlucht war höchst beeindruckend und Randazzo erwies sich als ein vom Mittelalter geprägtes, verschlafenes Städtchen überragt vom schneebedeckten Ätna ... Unser spätes Mittagessen dort ist eine andere Geschichte und an Mandeln geknüpft. Vielleicht erzähle ich sie ein anderes Mal.

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