Also, echt war er schon, aber nicht das was ich mir darunter vorfantastisiert habe. So ein Berg von einem Kerl, mit Bärenfellen bedeckt, zwei Frauen, mindestens!, in den muskulösen Armen und eine Wodkaflasche zwischen den Zähnen. Wäre er so gewesen, hätte ich auch verstanden, dass die Kripo, in zivil!, meine Personalien kontrolliert. Aber so? Der Mann war wesentlich kleiner als ich, sagen wir mal gnädig 170, schmal und er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke. Bart hatte er nicht, nur dunkle Schatten da wo er sein würde, und wenn da einer wäre, dann wäre er sehr, sehr dicht. Er kam in den Schlemmergrill als ich gerade gehen wollte. Es mangelte an anderen Gästen und Frau Sch. war dabei den Laden dicht zu machen, was bedeutet, dass sie Zigarettenpäckchen zählt und auffüllt, gebratene Würste von einer Bratfläche auf eine andere umgruppiert, die Bratfläche reinigt ... also es ist eine zeitraubende Vorbereitung auf den Feierabend. Die Spielautomaten hatte sie abgeschaltet. Wenn eine Stunde vor Feierabend noch jemand anfängt zu spielen, der glaubt, dass "der (Automat) kommt gleich!", dann wird es schwierig diesen Gast los zu werden!
Dann kam dieser Gast und fragte was ich trinken würde. Nicht weil er mich einladen wollte, sondern weil er sich überlegte, ob er das auch trinken möchte. Nüchtern war er nicht. Nichtalkoholisches kam für ihn nicht in Frage. Wein wollte er, nur welchen? Ich machte den Fehler, ihm den Rosé vorzuschlagen, die Flasche stand direkt vor mir auf dem Tresen, und er beschloss spontan diesen Wein zu probieren. Frau Sch. bot ihm sogar einen Verkostschluck an, aber er sagte: "Nein, machen voll."
Vielleicht sehe ich aus wie jemand, dem man sich gern anvertraut? Vielleicht war es aber auch nur der Mangel an anderen Gästen, an die er sich wenden können hätte. Auf jeden Fall "gerieten wir ins Gespräch". Ich muss hier gleich sagen, dass er ein gutaussehender, jung wirkender, dunkelhaariger (Bart) Mann war, der eine Schirmmütze trug, die er nie abnahm, so dass ich nicht weiß, ob er eine Glatze hatte oder sein Schädel vom eben beendeten Knastbesuch kahlgeschoren war.
Ob er Türke sei, fragte ich. Irgendetwas muss man ja sagen und vom Aussehen her dachte ich, dass ich da richtig liege.
"Nein. Russe."
Hier brach meine Vorstellungswelt zusammen und ich sah mich mit der Realität völlig unvorbereitet konfrontiert. Aber ich verhielt mich völlig neutral. Okay, dann ist er eben ein Russe. Fertig. Ich ließ mir noch ein Schorle machen. Neugierig war ich jetzt schon! Und er war gesprächig.
Er ist ein deutschstämmiger, russischer Jude (darf man das sagen?) und kam mit der ganzen Familie vor fünf Jahren nach Deutschland. Die "Eingliederung" war ein Horrortrip, von hier nach da, schreckliche Menschen, unsägliche Quartiere ... Es hat ihm nicht gefallen. Und eigentlich gefällt ihm jetzt, wo er schon seit fünf Jahren hier lebt, eine schöne Wohnung und eine Frau und Kind in Spanien hat (die Frau weigert sich nach Deutschland zu kommen) Deutschland gar nicht. Zu viele Steuern und zu viele Gesetze.
Ob er denn lieber in Russland leben wolle?
Nein! Auf keinen Fall! Obwohl ...
Amerika hält er für das größte Übel der Welt. "Der Westen" kniet vor den USA nieder, unterwirft, demütigt sich. Das findet er nicht gut. Er macht Spuckgeräusche ohne zu spucken.
Irgendwann stehen plötzlich zwei große Männer in der Tür und verlangen unsere Ausweise zu sehen. Das ist mir noch nie passiert ... na ja, nicht in den vergangenen 50 Jahren. Ich zeige meinen Personalausweis, einer der Männer gibt die Daten durch. Ich bekomme meinen Ausweis zurück. Als ich aufblicke begegne ich dem Blick des anderen großen Mannes. Er hat grüne Augen und er sieht mich sehr intensiv an. Bin ich verdächtig? Wessen? Aber inzwischen wird auch die Identität meines Gegenüber verifiziert und die beiden großen Männer gehen weiter. Mit fällt auf, dass sie sonst niemand kontrollieren. Sie gehen einfach weiter. Frau Sch. sagt, dass sie noch hier erlebt habe, dass Zivilbeamtete Kontrollen durchgeführt haben.
"Das ist das zweite Mal dass ich heute kontrolliert werde." sagt mein Gesprächspartner. Seinen Namen habe ich nicht erfahren, habe aber auch nicht danach gefragt. Dass er 38 Jahre alt ist hat mich verblüfft, was er mit Freude registrierte, er sieht wesentlich jünger aus.
"In unserer Familie sehen alle jünger aus als wir sind." Da klingt Stolz durch.
Der Vater lebt in einer Einzimmer-Wohnung in K., er hat sich geweigert mit der Mutter und der Schwester nach Stuttgart zu ziehen. Die beiden haben jetzt eine schöne Wohnung in der gleichen Siedlung in der auch er eine hat. Alle sechs Wochen fliegt er nach Barcelona und besucht Frau und Kind, von dem er annimmt, dass es seines ist. Er arbeitet als Koch im Flughafen. Sein Traum ist ein Boot auf dem man leben kann und mit dem er nach Israel schippern möchte ...
Ich habe gesagt, dass ich einmal auf dem Flughafen vorbeischauen werde. Werde ich das?
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