So nannte man früher die oberste Ebene des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Sie war der Ausgangs- oder Endpunkt jeder Bahnreise. Von hier aus ging es direkt zum Zug. ... Ging. Das ist Vergangenheit. Heute muss man durch zwei lange "Überwege" zu den Gleisen eilen. Die meisten Reisenden müssen eilen, weil sie ja nicht mit dem langen Hinweg gerechnet haben. ... Aber das ist nicht meine Geschichte. Ich möchte von Menschen erzählen, die ich auf ihrem Weg durch die Halle beobachte.
Am besten fange ich mit "Lorelei" an. Eine wirklich üppige Frau! Sie "walkt" daher auf hohen Stöckeln, die eine Spezialanfertigung sein müssen, sonst könnten sie diese Bergmasse nicht tragen! Ihr Körper ist in nicht zu übersehender Wallung: alles an ihr wallt, das Kinn, der Busen, die Umgebung des Busens bis hin zu den Schenkeln. Man sieht förmlich, wie Vater Rheins Hände sie knetet während sie vorbei geht. Sie trägt übrigens Schwarz. Schwarz und eng, mit Goldbordüren und eine Goldkette, die, ertrinkend, vergeblich versucht sich aus ihren Halsfalten an die Oberfläche zu arbeiten! Und Lorelei ist überzeugend blond! (Was Heutzutage ja nicht schwierig ist.) Langes blondes Haar, nur an den Schläfen leicht gelockt, eine Goldflut die auf ihren Busen und über ihren Rücken stürzt wie ein schlafender Wasserfall. Wahrscheinlich Spray oder Gel ... dann ist sie vorbei: "Ich weiß nicht was soll es ..."
Die Rollators sind ein älteres Ehepaar. Beide gehen mit Rollator im Partnerlook. Das sieht man selten! Sie kommen von links und wollen, irgendwann, nach rechts. Gekleidet sind sie völlig unterschiedlich, also ist Partnerlook nicht unbedingt "ihr Ding", vielleicht waren die Rollatoren ja auch als "Set" billiger? Jetzt haben sie Halt gemacht um zu verschnaufen und zu entscheiden, in welche Richtung sie rollatieren wollen. Sie tendiert zurück nach links, er beharrt auf weiter nach rechts, quasi geradeaus. Dass sie zu den Bahnsteigen wollen ist offensichtlich, dass es, um zu diesen zu gelangen, zwei Möglichkeiten gibt, scheint ihnen klar zu sein. Von meinem Sitzpunkt aus, am früheren Gleis 12, wäre es sinnvoll dem Vorschlag des Mannes zu folgen. Der Zugang ist dort wo früher Gleis 16 war. Aber die Frau, die vor dem Mann gegangen war, hat sich schon umentschieden und nun stehen sie, Rollator gegen Rollator ineinander verkeilt, sich gegenüber und gehen nirgendwo hin.
Ich verliere sie aus den Augen, denn es kommt Die Frau in Weiß. Nein, sie kommt nicht, sie schwebt herbei wie eine Vision aus einem Märchen, oder aus einem Gruselfilm, je nachdem wie man drauf ist. Was es an Schleiern zu bieten gibt, sie trägt es. Alles weiß, weiß, weiß. Es weht ihr voraus und hinterher wie Nebel im schottischen Hochmoor. Zumindest stelle ich mir, der noch nie dort war, das schottische Hochmoor so vor. Dass in dem Moment eine Lautsprecherdurchsage stattfindet, wie immer völlig echoverzerrt und deshalb unverständlich, erhöht noch den Eindruck des dunklen Viktorianischen: Es jault der "Hound of the Baskervilles" durch die Halle! Die Frau in Weiß, übrigens eine schöne Frau, gut geschminkt, schwebt vorüber. Sie blickt nicht links, sie blickt nicht rechts, für sie gibt es nur: geradeaus und die Gewissheit, dass ihr alle Blicke folgen. Kein Wunder dass ich die Rollatoren nicht weiter beachtete.
Dafür rollen jetzt die Radwanderer an. Alle im "rüstigen" Alter, also zu alt um Radfahren für etwas anderes als Freizeitgestaltung zu deklarieren. Sie kommen immer in Rudeln und sehen, wenn man von unterschiedlicher Größe absieht, alle ziemlich gleich aus: graumelierte bis weiße Haare, von Wind, Sonne und anderem Wetter braun und runzelig gegerbt und in mehr oder weniger passender Radwanderkleidung. Es empfiehlt sich, bei den Herren nicht unter den Bereich unterhalb der tiefhängenden Gürtellinie zu sehen! Ich breite den Mantel gnädigen Schweigens darüber. Bei Frauen kucke ich schon gar nicht mehr. Welche Fleischmassen da in Leggins gepresst werden, würde in der Wurstherstellung die Aufsichtsamtbehörde auf den Plan rufen. Sie schieben ihre Radmobile, Fahrrad kann man das ja gar nicht mehr nennen, vorbei und unterhalten sich lautstark darüber, was für ein toller Tag das war und "Schade dass der Eugen gestürzt ist und ins Krankenhaus musste". Man müsse das unbedingt im nächsten Monat wieder machen, in der Hoffnung dass der Eugen dann "wieder fest im Sattel sitzt". Heute scheint er ja nicht sehr fest gesessen zu haben? ... aber da sind sie schon in Richtung S-Bahn verschwunden. Wozu die Fahrräder dabei haben, wenn sie dann doch Bahn fahren? Menschen sind rätselhafte Wesen.
Rätselhaft blicken die in die Welt, die ich Zeitreisende nenne. Sie erkunden die Halle, als wären sie aus einer Zeitmaschine in einer falschen Welt gelandet. Auch kostümmäßig fallen sie auf, egal ob Mann oder Frau. Seltsam zusammengewürfelte Oberbekleidung, über das Darunter möchte ich gar nicht spekulieren, Anoraks bei 30° Celsius im Schatten, Hüte als i-Tüpfelchen! Ohne Hut würden sie gar nicht so auffallen. Eine Frau trägt allerdings das auf dem Kopf, das früher im Rückfenster des PKW eine Klorolle auffällig verbarg. Sie hat eine Krempe dazugehäkelt. Alles in gedecktem Pink. Sehr chic! Sie wandern durch die Halle, auch Männer, nur mit weniger auffälligen Hüten, als befänden sie sich in Luxor, Ägypten. Die Augen in die Höhe erhoben, als flöge von dort gleich Phöbus herunter ... mit einem Zettel im Schnabel über Abfahrtzeit des Zuges und den Zugang zum entsprechenden Gleis. Nur eben im unsterblichen Ägypten, nicht im profanen Stuttgart. Sie verweilen lang in meinem Blickfeld. Manchmal denke ich, dass ich sie wieder auf ihre Zeitmaschine schubsen sollte!
Der Punk mit der Ratte auf der Schulter geht ganz locker in den Hüften, er trägt Jeans mit Schottenmuster, vorbei. Der Rattenschwanz liegt malerisch auf seiner schwarzgekleideten T-Shirt Hinterseite. Er kommt aus dem Lokal in dem ich meine Schorle kaufe, mit der ich mich dann außen hinsetze um Menschen zu beobachten. Manchmal ärgere ich mich ja über die Tauben, die da ständig hinein und heraus fliegen, aber jetzt denke ich, dass mich auch keine heiligen Kühe wundern würden, sofern welche an mir vorbei kämen! Übrigens hat der Punk (heißen die noch so?) Schwierigkeiten seine Hände mit den Ketten und Kettchen zu koordinieren, die ihm von jeder Hosentasche baumeln, und ich bin froh, dass er keine an den Schuhen hat, sonst müsste ich wieder einmal den guten Samariter spielen und das war bisher immer mit fragwürdigem Erfolg verbunden. ... Übrigens spricht er mit der Ratte und küsst sie, also kann er kein schlechter Mensch sein, denke ich.
Die Leergutsammler erkennt man an den abgewetzten Plastiktaschen die sie wie eine Art Lepraglöckchen bei sich tragen. Man erkennt oft nicht mehr, ob das Aldi oder Lidl war. Wie arm muss man sein, um eine Wegwerftüte so lange zu benutzen, bis man sie wirklich wegwerfen muss? Unsere Zeit und Gesellschaft ist verrückt! Dass die meisten dieser Leergutsammler ältere Menschen sind, oder solche mit Migrationshintergrund, ist ja nicht gerade ein Trost! Ich habe mir angewöhnt meine Apfelschorle selber zu mischen. Also kaufe ich einen Apfelsaft und ein Mineralwasser. Dadurch habe ich zwei Pfandflaschen vor mir stehen und beobachte die bunte Welt, die an mir vorbeidefiliert, mit einem Auge auf die alte Frau, den alten Mann, den/die Migratsionshintergründige, die mit abgewetzter Plastiktüte von Müllcontainer zu Abfalleimer (so nannte man das früher, als die Sprache noch nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst war) pilgern und mehr oder weniger gelangweilte Blicke in die einzelnen Abteilungen der getrennt Müll sammelnden Behälter werfen. Manche haben Taschenlampen dabei und leuchten kurz und, wie sie glauben, unauffällig in die Tiefen dessen, was die "Anderen" nonchalant dort deponiert haben. Dass Müll nicht wirklich sachgerecht getrennt wird, fällt mir bei diesen Beobachtungen schon auf, aber ich kann ja nicht jedes Mal von meinem Tisch aufspringen und zum Abfallbehälter laufen, nur weil jemand seine Restpommesfrittes in die Glasabteilung entsorgt. Ich bin schon froh, dass sie/er sie nicht den Tauben überlässt! Meine leeren Flaschen stelle ich einladend vor mich hin und irgendwann kommt eine Person vorbei und fragt, ob sie die mitnehmen darf. Ich nicke dann freudig weil ich weiß, dass ich eine Freude bereitet habe. Und ich bin mir bewusst, dass diese Freude einer Person widerfuhr.
(Wird fortgesetzt)
Die Rollators sind ein älteres Ehepaar. Beide gehen mit Rollator im Partnerlook. Das sieht man selten! Sie kommen von links und wollen, irgendwann, nach rechts. Gekleidet sind sie völlig unterschiedlich, also ist Partnerlook nicht unbedingt "ihr Ding", vielleicht waren die Rollatoren ja auch als "Set" billiger? Jetzt haben sie Halt gemacht um zu verschnaufen und zu entscheiden, in welche Richtung sie rollatieren wollen. Sie tendiert zurück nach links, er beharrt auf weiter nach rechts, quasi geradeaus. Dass sie zu den Bahnsteigen wollen ist offensichtlich, dass es, um zu diesen zu gelangen, zwei Möglichkeiten gibt, scheint ihnen klar zu sein. Von meinem Sitzpunkt aus, am früheren Gleis 12, wäre es sinnvoll dem Vorschlag des Mannes zu folgen. Der Zugang ist dort wo früher Gleis 16 war. Aber die Frau, die vor dem Mann gegangen war, hat sich schon umentschieden und nun stehen sie, Rollator gegen Rollator ineinander verkeilt, sich gegenüber und gehen nirgendwo hin.
Ich verliere sie aus den Augen, denn es kommt Die Frau in Weiß. Nein, sie kommt nicht, sie schwebt herbei wie eine Vision aus einem Märchen, oder aus einem Gruselfilm, je nachdem wie man drauf ist. Was es an Schleiern zu bieten gibt, sie trägt es. Alles weiß, weiß, weiß. Es weht ihr voraus und hinterher wie Nebel im schottischen Hochmoor. Zumindest stelle ich mir, der noch nie dort war, das schottische Hochmoor so vor. Dass in dem Moment eine Lautsprecherdurchsage stattfindet, wie immer völlig echoverzerrt und deshalb unverständlich, erhöht noch den Eindruck des dunklen Viktorianischen: Es jault der "Hound of the Baskervilles" durch die Halle! Die Frau in Weiß, übrigens eine schöne Frau, gut geschminkt, schwebt vorüber. Sie blickt nicht links, sie blickt nicht rechts, für sie gibt es nur: geradeaus und die Gewissheit, dass ihr alle Blicke folgen. Kein Wunder dass ich die Rollatoren nicht weiter beachtete.
Dafür rollen jetzt die Radwanderer an. Alle im "rüstigen" Alter, also zu alt um Radfahren für etwas anderes als Freizeitgestaltung zu deklarieren. Sie kommen immer in Rudeln und sehen, wenn man von unterschiedlicher Größe absieht, alle ziemlich gleich aus: graumelierte bis weiße Haare, von Wind, Sonne und anderem Wetter braun und runzelig gegerbt und in mehr oder weniger passender Radwanderkleidung. Es empfiehlt sich, bei den Herren nicht unter den Bereich unterhalb der tiefhängenden Gürtellinie zu sehen! Ich breite den Mantel gnädigen Schweigens darüber. Bei Frauen kucke ich schon gar nicht mehr. Welche Fleischmassen da in Leggins gepresst werden, würde in der Wurstherstellung die Aufsichtsamtbehörde auf den Plan rufen. Sie schieben ihre Radmobile, Fahrrad kann man das ja gar nicht mehr nennen, vorbei und unterhalten sich lautstark darüber, was für ein toller Tag das war und "Schade dass der Eugen gestürzt ist und ins Krankenhaus musste". Man müsse das unbedingt im nächsten Monat wieder machen, in der Hoffnung dass der Eugen dann "wieder fest im Sattel sitzt". Heute scheint er ja nicht sehr fest gesessen zu haben? ... aber da sind sie schon in Richtung S-Bahn verschwunden. Wozu die Fahrräder dabei haben, wenn sie dann doch Bahn fahren? Menschen sind rätselhafte Wesen.
Rätselhaft blicken die in die Welt, die ich Zeitreisende nenne. Sie erkunden die Halle, als wären sie aus einer Zeitmaschine in einer falschen Welt gelandet. Auch kostümmäßig fallen sie auf, egal ob Mann oder Frau. Seltsam zusammengewürfelte Oberbekleidung, über das Darunter möchte ich gar nicht spekulieren, Anoraks bei 30° Celsius im Schatten, Hüte als i-Tüpfelchen! Ohne Hut würden sie gar nicht so auffallen. Eine Frau trägt allerdings das auf dem Kopf, das früher im Rückfenster des PKW eine Klorolle auffällig verbarg. Sie hat eine Krempe dazugehäkelt. Alles in gedecktem Pink. Sehr chic! Sie wandern durch die Halle, auch Männer, nur mit weniger auffälligen Hüten, als befänden sie sich in Luxor, Ägypten. Die Augen in die Höhe erhoben, als flöge von dort gleich Phöbus herunter ... mit einem Zettel im Schnabel über Abfahrtzeit des Zuges und den Zugang zum entsprechenden Gleis. Nur eben im unsterblichen Ägypten, nicht im profanen Stuttgart. Sie verweilen lang in meinem Blickfeld. Manchmal denke ich, dass ich sie wieder auf ihre Zeitmaschine schubsen sollte!
Der Punk mit der Ratte auf der Schulter geht ganz locker in den Hüften, er trägt Jeans mit Schottenmuster, vorbei. Der Rattenschwanz liegt malerisch auf seiner schwarzgekleideten T-Shirt Hinterseite. Er kommt aus dem Lokal in dem ich meine Schorle kaufe, mit der ich mich dann außen hinsetze um Menschen zu beobachten. Manchmal ärgere ich mich ja über die Tauben, die da ständig hinein und heraus fliegen, aber jetzt denke ich, dass mich auch keine heiligen Kühe wundern würden, sofern welche an mir vorbei kämen! Übrigens hat der Punk (heißen die noch so?) Schwierigkeiten seine Hände mit den Ketten und Kettchen zu koordinieren, die ihm von jeder Hosentasche baumeln, und ich bin froh, dass er keine an den Schuhen hat, sonst müsste ich wieder einmal den guten Samariter spielen und das war bisher immer mit fragwürdigem Erfolg verbunden. ... Übrigens spricht er mit der Ratte und küsst sie, also kann er kein schlechter Mensch sein, denke ich.
Die Leergutsammler erkennt man an den abgewetzten Plastiktaschen die sie wie eine Art Lepraglöckchen bei sich tragen. Man erkennt oft nicht mehr, ob das Aldi oder Lidl war. Wie arm muss man sein, um eine Wegwerftüte so lange zu benutzen, bis man sie wirklich wegwerfen muss? Unsere Zeit und Gesellschaft ist verrückt! Dass die meisten dieser Leergutsammler ältere Menschen sind, oder solche mit Migrationshintergrund, ist ja nicht gerade ein Trost! Ich habe mir angewöhnt meine Apfelschorle selber zu mischen. Also kaufe ich einen Apfelsaft und ein Mineralwasser. Dadurch habe ich zwei Pfandflaschen vor mir stehen und beobachte die bunte Welt, die an mir vorbeidefiliert, mit einem Auge auf die alte Frau, den alten Mann, den/die Migratsionshintergründige, die mit abgewetzter Plastiktüte von Müllcontainer zu Abfalleimer (so nannte man das früher, als die Sprache noch nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst war) pilgern und mehr oder weniger gelangweilte Blicke in die einzelnen Abteilungen der getrennt Müll sammelnden Behälter werfen. Manche haben Taschenlampen dabei und leuchten kurz und, wie sie glauben, unauffällig in die Tiefen dessen, was die "Anderen" nonchalant dort deponiert haben. Dass Müll nicht wirklich sachgerecht getrennt wird, fällt mir bei diesen Beobachtungen schon auf, aber ich kann ja nicht jedes Mal von meinem Tisch aufspringen und zum Abfallbehälter laufen, nur weil jemand seine Restpommesfrittes in die Glasabteilung entsorgt. Ich bin schon froh, dass sie/er sie nicht den Tauben überlässt! Meine leeren Flaschen stelle ich einladend vor mich hin und irgendwann kommt eine Person vorbei und fragt, ob sie die mitnehmen darf. Ich nicke dann freudig weil ich weiß, dass ich eine Freude bereitet habe. Und ich bin mir bewusst, dass diese Freude einer Person widerfuhr.
(Wird fortgesetzt)
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