Samstag, 27. Juni 2015

Der Mann der eventuell ein Epileptiker war


Gestern hatte ich ein interessantes Erlebnis. Als ich aus der Toilette in der Klett-Passage kam, lag vor einem leeren Schaukasten, in dem immer entsetzliche Damenmode auszustellen angedroht war und dann verwirklicht wurde, ein Mann, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Boden und zappelte.
Um ihn, aber Abstand haltend, waren fünf Personen gruppiert. Ein großer, schlanker Mann mit sich deutlich offenbarender Glatze, obwohl er noch nicht das Alter dafür zu haben schien;
eine junge, blonde Frau, die Haare lang herunterfallend, wie das Heutzutage ja üblich ist, ob blond oder die Abstufung dazwischen bis schwarz; (der Mann und die Frau schienen zusammen zu gehören ... Das ist wohl eine andere Geschichte).
Dann war da noch ein junger Mann, der, wie sich zum Schluss herausstellte, zu der jungen Frau gehörte, die er irgendwie "betreute". (Ist das Wort Zuhälter noch politisch korrekt?)
Und zwei Männer, in mittlerem Alter, mit türkischem Migrationshintergrund, von denen ich einen, wie flüchtig oder auch nicht wie immer ich kannte, die alle wild gestikulierten und "Polizei"! riefen.
Wie gesagt, auf dem Boden, der ja nicht unbedingt sauber ist, lag ein Mann, mit dem Gesicht nach unten, zappelte und sabberte, was dem Boden, hygienisch gesehen, nicht fruchtete. Ich will damit sagen, dass ihm Speichel und Schleim aus dem weit aufgerissenen Mund troff. Der Mann hatte eine Glatze mir graumeliertem Haarkranz, ich schätze ihn so kurz vor 60, trug, oder vielmehr hatte eine lila Schirmmütze getragen, sie lag vor ihm auf dem Boden. Zudem lag dort, an den Fuß des leeren Schaukastens (siehe oben) gelehnt ein kleiner Rucksack in lila und schwarz, den er wohl selber abgeworfen hatte als er fiel.
Als der Türke, den ich flüchtig kenne, mich sah, machte er hilflose Gesten mit den Händen in Richtung Bodenliegendem und mich. Ich solle helfen, sollte das heißen.
Aber wie? Zuerst dachte ich an die Polizeiwache, in deren Schatten das ja alles ablief, aber der andere Mann mit türkischem Aussehen sagte: "Kein Bolisei! Alles su!"
Inzwischen telefonierte der Mann mit frühreifer Glatze mit dem Notdienst. `Gut´ dachte ich.
Die beiden Türken versuchten nun den am Boden Zappelnden zu fragen ob er "Zammam", oder so etwas ähnliches, habe.
Er schien es zu bejahen.
Ich tippte auf Epilepsie.
Langsam wurde er ruhiger, lag aber apathisch auf dem Boden, sein Gesicht im Schleim aus seinem Mund.
Ich sagte den beiden Türken gestensprachlich, dass wir den Mann aus seinem Schleim holen und hinsetzen sollten. Einer der beiden verstand, während der andere, mein Bekannter, weiterhin im Kreis herum lief, dramatisch die Arme in die Höhe warf und: "Bolisei! Bolisei!" rief.
Seltsamerweise formte sich kein Kreis Schaulustiger. Na ja, es war kurz nach 22:00 Uhr, da sind auch die schaulustigsten Stuttgarter zuhause vor dem Fernseher.
Die blonde Frau hatte ich auch aus den Augen verloren. Ihr "Betreuer" war verschwunden.
Der große Mann mit unvorhergeplanter Glatze stand da, sein Handy anstarrend und irgend einer Art Wachkoma nahe seiend.
Wir setzten den Mann auf. Es brachte ihn nicht um. Im Gegenteil, er versuchte auf zu stehen. Also halfen wir ihm. Menschen die tot oder kurz davor sind, sind unvorstellbar schwer! Wir bekamen ihn trotzdem auf die Beine.
Ich bewunderte meine Kraft!
Der Mann taumelte zwischen mir und dem Türken hin und her.
Die beiden Türken redeten sehr lautstark auf ihn ein. Sie wollten immer noch wissen, ob er "Zammam" habe.
Einer fragte mich, was Zammam auf Deutsch heiße.
Epilepsie? riet ich.
Er nickte.
Na bitte, sagte ich doch von Anfang an.
Langsam stabilisierte sich der "Patient" zwischen uns. Er drohte nicht mehr an dem Schaukasten hinunter in die Hocke zu gleiten.
Sein Blick wurde klarer und er sah mich an, als wäre ich Doktor Frankenstein, als ich versuchte ihm die lila Kappe in die Hand zu drücken. Er wollte sich deutlich davon distanzieren. Nur ein Psychologe wird erklären können warum.
Der Mann mit dem Handy beobachtete die Fortschritte der Rehabilitierung des "Unfallopfers", als das er ihn gemeldet hatte, mit Sorge und Bedenken. "Sollte er nicht sitzen bleiben?" fragte er scheu.
Ganz gegenteiliger Meinung war der Fallsüchtige und seine beiden Landsleute. "Ah, geht gutt." meinten sie und als der Mann sich dann auf den Weg die Klett-Passage hinunter machte, ich hatte ihm noch seinen Rucksack ausgehändigt, folgte ihm einer, nur um sicher zu gehen, dass er nicht wieder umkippt. Nationale Bande binden!
Ja. Da standen wir nun, 15 Minuten nachdem der Notruf hinaus gegangen war und warteten auf den Notarzt. Ich lief mal auf der Treppe nach oben, um vielleicht winken zu können. Es regnete.
Inzwischen war die blonde Frau wieder aufgetaucht und auch ihr gutaussehender Berater. Sie telefonierte und ging schließlich ab, mit einem Achselzucken für den Glatzenanfänger.
Der wurde immer verlegener. "Aber das kann der doch nicht machen." meinte er im Hinblick auf den entschwundenen vom Notarzt zu Versorgenden.
Der Türke, der den, ich nenne ihn jetzt einfach einmal: Epileptiker, verfolgt hatte, kam zurück und hob die Schultern und Arme in der Geste des, in diesem Fall, freudigen Bedauerns. `Nix passiert!´ sollte das heißen. Er ging und nahm seinen Landsmann mit.
"Aber was mache ich jetzt?" fragte der Mann mit dem Handy.
"Wir warten einfach." schlug ich vor. Eigentlich hätte ich ja auch gehen können.
Schließlich tauchten drei Männer auf, einer offensichtlich der Notarzt, sehr motiviert aussehend, einer mit schwarzem Koffer, und suchten die Umgebung nach einem Unfallopfer ab.
Ich sagte: "Da hatte ein Mann einen epileptischen Anfall, aber er ist inzwischen gegangen."
Man nahm meine Diagnose und den glücklichen Ausgang des Geschehens mit Wohlwollen, wenn nicht sogar mit Freude entgegen. Einer der Sanitäter ging noch einmal in Richtung des abgegangenen Patienten entlang, nur um sicher zu sein, dass der nicht wieder irgendwo läge ...
Ich fuhr heim.
Soll ich die Klett-Passage in Zukunft meiden?

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